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Fuck the Now!

Zum Leben im Hier und Jetzt gibt es die plattesten Kaffeetassensinnsprüche und spektakulärsten, spirituellen Weisheiten. Gelegentlich liegen sie schockierend nah beieinander. Also dann lasst uns mit der Gegenwart abrechnen und die spirituelle Szene aufmischen oder zumindest etwas Widerstand kreieren, denn bekanntlich gibt es ohne kein Wachstum. Raus aus dem Leben im ewigen Jetzt, hin zu echter Freiheit.

Starten wir mit einem Blick Richtung Evolution. Die bringt ja die abenteuerlichsten Erfindungen hervor. Wer ein Beispiel möchte, kann mal Glaucus Atlanticus googeln. Egal wie absurd die evolutionären Auswüchse sind, in einem größeren Bild machen sie immer Sinn. Nicht anders ist es mit unserer Fähigkeit die Vergangenheit zu reflektieren und die Zukunft zu antizipieren. Ohne sie wären wir nicht, was wir sind. Menschen. Auf diese Fähigkeit zu verzichten, um ein vermeintlich sorgloses Leben im Hier und Jetzt zu führen, würde uns von unserer Natur entkoppeln und die Erfahrungen und Errungenschaften unserer Ahnen für nichtig erklären. Manch einer gebrochenen Seele mag genau daran gelegen sein. Dann lest nicht weiter. Das hier mag nicht die Axt für das gefrorene Meer in uns sein, aber doch eine Nadel für eine Seifenblase.

Im Grunde könnte der Artikel hier enden. Wenn man sich nicht entscheidet gegen die Evolution anzutreten, erschließt sich der Rest eigentlich (vielleicht irgendwann). Aber das befriedigt weder meine Schreiblust, noch bereiten solche kurzen Artikel viel Freude beim Lesen. Also let’s go Freunde und Freund*innen der Ecken und Kanten.

Ist das Leben oder kann das weg?

Wenn wir vom Hier, Jetzt und Heute reden, sollten wir erstmal einen Blick werfen, was es da eigentlich gibt. Wenn wir unsere bisherigen Erfahrungen und zukünftigen Pläne über Bord werfen, bleibt was jetzt ist. Emotionen, Gefühle, Impulse und spontane Reaktionen. Im Hier und Jetzt treiben wir auf einem Meer aus alldem. Wenn uns das leiten soll, leben wir im Grunde das Leben eines Staubsaugerroboters. Wir bewegen uns in eine Richtung, bis ein neuer Impuls kommt und wir die Richtung wechseln. Das geht solange bis der Akku leer und das Leben vorbei ist. Unterwegs haben wir all den Scheiß aufgesammelt, der rumlag. Ernüchternd und ziemlich weit weg von dem, was mit panta rhei, dem Eintauchen in den Fluss des Lebens, eigentlich gemeint ist.

Am Ende haben wir dann nämlich nicht unser sondern irgendein Leben gelebt. Die Impulse, die wir kriegen, sind nichts anderes als die Entscheidungen anderer und unsere Vergangenheit/Prägung. Im Grunde basiert die aber auch auf Entscheidungen anderer meist zu großem Teil denen unserer Eltern. Ohne eine bewusste Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit und Zukunft kommen wir uns vielleicht frei vor, weil wir unseren Impulsen folgen. Eigentlich sind wir aber nur ein Spielball.

Ich sag immer gerne, dass das Leben ein Ponyhof ist. Reiten oder geritten werden. In dem Fall werden wir geritten und das ziemlich hart. Nicht immer muss so ein Leben schlecht ausgehen. Wenn der Reiter auf eurem Rücken kompetent ist, kann das ein berauschend schönes Leben werden. Nur seid ihr dann vielleicht in Venezuela gelandet, wenn ihr doch eigentlich Island sehen wolltet. Ihr kennt die Leute, die dann irgendwann sagen „Wie das Leben eben so spielt.“ oder? Abgesehen davon sind es ja oft genau die Leute ohne kompetentes Personal im Sattel, die sich ins Hier und Jetzt flüchten und auf ihr Gefühl vertrauen. Dafür braucht es aber eine Basis.

Emotionale Instabilität

Gehen wir noch mal zurück zu dem Bild des Meeres aus Emotionen, Impulsen und diesem ominösen Bauchgefühl. Treibt man dort an der Oberfläche wird es bei Wellengang schnell instabil und die Suche nach Halt beginnt. Es braucht den Fels in der Brandung – etwas konstantes, unverrückbares zur Orientierung. Oft springen hier Partner, Freunde oder Coaches ein. Was temporär eine Hilfe sein kann, wird langfristig schnell zum äußeren Ersatz für innere Stabilität. Abhängigkeit entsteht. Aus der Suche nach Orientierung wird Fremdbestimmung, nur dies mal mit mehr Konstanz.

Wer in sich ruhen will, wie es das Meer unter der Oberfläche gewissermaßen tut, muss der Sache auf den Grund gehen und in die eigenen Tiefen abtauchen. Irgendwo da unten wo der Druck am höchsten ist, liegt der feste Boden unter den Füßen. Dieses Meer der Emotionen ist wichtig. Es birgt eine immense Kraft. Die Form aber liegt in der Tiefe. Den Rahmen bildet die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Zukunft. Anthony Carlisi brachte es für seinen Buchtitel auf den Punkt. The Only Way Out Is In.

Ratio und Emotio

Nehmen wir an, es wäre nur das Meer ohne die Form, die durch die Aufarbeitung unserer Vergangenheit und eine Vision unserer Zukunft entsteht. Unsere ganze Power würde an den brüchigsten Stellen unkontrolliert entweichen. Das mag wie ein Gefühl der Bestimmung wirken, wenn die Energie auf einmal in eine Richtung strömen kann, sollte aber nicht mit dem Verlust der Autonomie verwechselt werden.

Erst wenn wir dem ewigen Treiben entrinnen, innehalten und unsere Mitte zwischen dem, was war, ist und sein wird, finden, können wir uns auf unser Bauchgefühl verlassen. Wenn wir unsere Emotionen verstehen und nicht nur fühlen, können wir ihrer Kraft vertrauen. Solange Fuck the Now! Mach deine verdammten Hausaufgaben. „Nicht alles, was man isst, muss schmecken.“, sagte mal ein Arzt zu mir. Die immerwährende Befriedigung der eigenen Bedürfnisse hat noch niemanden ans Ziel gebracht. Im Kreislauf der eigenen Befindlichkeiten gibt es kein integres Leben und jetzt ab in die Tiefe, Zurück in die Zukunft oder was auch immer.

Das Bild stammt von der Festung Rozafa in Shkodra (Albanien).

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